Im Mahāyāna-Buddhismus entwickelte sich aus der Haltung des »Mitgefühls« mit allen leidenden, im Daseinskreislauf gefangenen Wesen die umstrittene Lehre, dass bestimmte Übeltäter, die durch ihre schlechten Taten eine schlechte Wiedergeburt bewirken, durch Tötung »befreit« werden (können). Ein häufig angeführtes, möglicherweise historisches Beispiel für eine solche »Befreiungstötung« ist die Ermordung des letzten Königs des tibetischen Großreiches, Langdama, durch den buddhistischen Mönch dPal gyi rdo rje (842). Dieses Ereignis wird bis heute in bestimmten Maskentanzritualen jährlich wiederholt, die in der rituellen Tötung eines Opfersubstituts gipfeln. Eine Untersuchung der tibetischen historiographischen Quellen, in denen das zentrale, aber fragliche Ereignis der frühen tibetischen Geschichte legendär beschrieben wird, offenbart zahlreiche Strategien, die vor dem Hintergrund der buddhistischen Verpflichtung zum Verzicht auf Gewalt den »Tyrannenmord« rechtfertigen sollen. Zugleich legt eine Analyse dieser Quellen allerdings den Schluss nahe, dass die Fortführung einer im Mahāyāna-Buddhismus entstandenen Auffassung der Legitimierung von Gewalt gegen skrupellose Gewalttäter in diesen Quellen deutlicher wird als die Interpretation, es habe sich um eine »befreinde« Tötung im Sinne der Auffassung des tantrischen Vajrayāna-Buddhismus gehandelt. Dies scheint vielmehr eine spätere Auslegung des Ereignisses zu sein.